Nenn mir dein Label – Wohnst du noch oder lebst du schon?

Jeder, der sich auch nur im Entferntesten mit Einrichtung(sstilen) beschäftigt, kam in den letzten Jahren nicht am Minimalismus, Japandi, Skandi, Industrial und Boho vorbei. Auf Instagram, in Einrichtungsshows wie Dreamhouse Makeover bei Netflix und bei Interieur-YouTubern sahen wir schöne, aufgeräumte und minimalistische Wohnungen, die sich lediglich in der Farbauswahl und den Accessoires unterschieden (und manchmal nicht einmal das). Manchmal erwischte ich mich dabei, wie ich durch Instagram scrollte und mich irgendwann fragte, ob ich das Bild nicht schon einmal gesehen habe, weil sich vieles so sehr ähnelte. 

Minimalismus vs. Maximalismus

Nun stieß ich beim Business Insider auf einen Artikel vom 6. März 2021, in dem der neue Wohntrend „Maximalismus“ beschrieben wurde. Laut der Journalistin Samantha Grindell hat sich dieser Trend insbesondere in der Pandemie entwickelt und soll insbesondere bei kleineren Wohnungen Sinn machen, da er praktischer und gemütlicher sei. Dabei kennen wir diese Prämissen ja schon vom Minimalismus. 

Sowohl beim Minimalismus als auch beim Maximalismus geht das darum, das Meiste aus kleinen Flächen herauszuholen. 

Jedoch sind die Herangehensweisen bei beiden Trends unterschiedlich. Während der Minimalismus sich auf das absolut Notwändige konzentriert und hier ganz klar Mari Kondos Konzept folgt, dass nur das Platz in deinem Leben hat, was dir wahrhaft Freude bringt, legt der Maximalismus den Fokus ganz klar auf „mehr“. Während der Minimalismus in der Farbauswahl sich selbst einschränkt, kombiniert der Maximalismus bunte Wände mit grellen Dekorationselementen, auffallenden Möbelstücken, Kunstwerken und Pflanzen. 

Was liegt zwischen diesen Extremen? 

Zwischen Minimalismus und dem Maximalismus spielt das normale Leben. Und auch diesem muss man mittlerweile ein Label aufdrücken. Bist du eher Industrial oder eher Modern? Lieber Exotic oder Seaside? Oder schwankst du zwischen Vintage und Landhaus?  Ganz wie bei Instagram bekommt die eigene Einrichtung, die eigentlich nur die Personen etwas angeht, die darin leben, ein Label bzw. ein Hashtag. 

#Hygge #Cozy 

Neben ein Paar mit kuscheligen Hausschuhen bekleideten Füßen steht eine dampfende Tasse Tee. Im Hintergrund brennt ein Kaminfeuer.

Das dänische Hygge bedeutet so etwas wie Wohlbefinden und lässt sich auf alle Kontexte anwenden. Laut der Website „VisitDenmark “ verbirgt sich dahinter im Wesentlichen „eine gemütliche, herzliche Atmosphäre, in der man das Gute des Lebens zusammen mit lieben Leuten genießt“. Weil das aber viel zu abstrakt ist und sich schlecht im Möbelkatalog abbilden lässt, gibt es mittlerweile Myriaden an Anleitungen, wie man sich sein Heim hyggelig gestalten kann. 

  • Kerzen. Viele Kerzen. Unmengen an Kerzen! 
  • Ein reduziertes Farbschema in Beige- oder Erdtönen
  • Kuschelige Kissen und Plaids 
  • Ein prasselndes Feuer (ob echt oder via Stream ist dahingestellt) 
  • Viele natürliche Materialien in der Einrichtung 
  • eine heiße Schokolade in der Hand und warme Socken an den Füßen

Gefühlt ist #Hygge = #Cozy, bzw. wird nur in der Anzahl der zu Verfügung stehenden Kuscheldecken und Hochflorteppiche getoppt. 

#Japandi #Industrial #Boho

Neben #Hygge gibt es natürlich noch sehr viel mehr Stile und Unterkategorien. Japandi setzt sich z.B. aus dem japanischen und dem skandinavischen Einrichtungsstil zusammen und verbindet strenge Ästhetik mit Wohlfühlatmosphäre. 

 Bei Industrial ist nicht die Musikrichtung, die sich Mitte der 1970er Jahre über die ganze Welt verbreitete, sondern ein Wohnstil, bei dem der Industrie-Look aus alten Loft-Wohnungen in moderne Großstadtwohnungen immigriert wird. Dabei ist wohl alles mögliche erlaubt. Industrial Rustic, Industrial Farmhouse, Modern Industrial und so weiter. Das Industriedesign lässt sich wohl in jedem Stil integrieren und zeichnet sich hauptsächlich durch die Kombination von unterschiedlich dunklen Metallelementen mit Altholz aus. Bei #Boho geht es dagegen verspielter zu – obwohl auch hier die Farbpalette wohl eher gedeckt ist. Weiche, kuschelige Materialien (immer im Mix) mit selbstgemachten Makramee-Wandhängern, Pampasgras und Erdtönen, dazu sogenannte Ethno-Muster. Und wo dazwischen liegt nun das #MinimalNordicInterior? Langsam verliere ich den Überblick. 

Nenn mir dein Label

Welches Label gibst du deinem persönlichen Einrichtungsstil? Oder bist du mittlerweile genauso überfordert davon wie ich? 

War der richtige Wohntrend schon immer so präsent oder hat die Wahl in den letzten Jahren einfach sehr an Gewicht gewonnen? 

Sich ein schönes Zuhause zu bereiten ist völlig natürlich, aber braucht man wirklich ein Label? Wir leben mittlerweile in einer Welt in der es völlig normal ist zu sagen „Das Buch steht im linken Billy“ oder „Ich habe deine Schlüssel auf das Kallax gelegt.“ Bereits 2011 hat Arte eine Dokumentation über IKEA gedreht, die den passenden Namen „Ein Möbelhaus erobert die Welt“ hat. Egal wo man wohnt, ob in Peking, Sankt Petersburg oder Haifa – die Einrichtungen gleichen sich dank des schwedischen Möbelhauses. Dieser Fakt wurde auch schon sehr treffend im Roman „Fight Club“ von Paul Palaniuk aufgegriffen und eindringlich in der gleichnamigen Verfilmung mit Edward Norton und Brad Pitt dargestellt: 

Dank der sozialen Medien, die mit Hilfe eines Hashtags die Menschen rund um den Globus verbinden, nähern sich auch weitere Trends immer mehr an und es gibt kaum noch Unterschiede, abgesehen von der Art der Steckdosen und ob der Schrank eingebaut wird  oder nicht. 

Wohnst du noch, oder lebst du schon? 

Wenn ich mir unser Wohnzimmer angucke, dominiert ein wandfüllendes Bücherregal voller Bücher den Raum (und die Bücher stehen richtigrum, wohl gemerkt). Und jedes Mal wenn ich es ansehe, erfreue ich mich daran. Das ist dennoch weit weg vom Minimalismus – aber gehört das jetzt schon zum Maximalismus? 

Als ich 2005 nach meinem Schulabschluss auszog, shoppte ich, in Begleitung meiner damaligen Freundin in einem Möbelhaus. IKEA gab es damals in unserer Nähe nicht. Ich kann mich noch erinnern, dass ich mich in eine wunderschöne Kommode aus Weichholz mit antiken Beschlägen verliebte. Ab da hieß es dann von meiner Freundin: Diese Kommode ist der Maßstab, sämtliche danach ausgesuchten Möbelstücke mussten zu dieser Kommode passen. Exakt das gleiche Holz, exakt der gleiche Stil. Ich habe das damals nicht so verstanden, aber ich „gehorchte“, schließlich verkörperte meine jetzige Ex für mich damals Stil und Lebenserfahrung (ich war noch jung und naiv). 

Noch immer verbinde ich dieses „Alles passt zusammen“ mit einem erwachsenen Wohnstil. Die Krönung des adulte Verhalten war für mich sehr lange Zeit, wenn man in ein Möbelhaus ging, sich für eine Wohnzimmerserie entschied und sich diese dann 1 zu 1 Zuhause aufbaute. 

Vor ein paar Jahren las ich von dem Trend, dass man alte, antike Stücke, mit neuen modernen Möbeln kombinieren sollte, um dem eigenen Zuhause „Charakter“ zu verleihen. Meine heiß geliebte Weichholzkommode würde sich demnach am wohlsten mit modernen, weißen Lackmöbeln fühlen. 

Einmal ohne Hashtag, bitte!

Als mein Mann und ich zusammenzogen, würfelten wir unsere Einrichtung zusammen. Die Küche übernahmen wir von der Bekannten einer Kollegin, genauso die Couch. Der Couchtisch stammte noch von meiner Mutter. Unsere Garderobe fanden wir bei Aldi und das Schuhregal wurde aus alten Weinkisten zusammengeschreinert. Und natürlich zog meine Weichholzkommode ein. Nach und nach erweiterten wir unsere Möbel. Ein Esstisch musste her, ein größerer, funktionsfähiger Schreibtisch, ein Etagenbett fürs Kinderzimmer, viele Bücherregale und ein neuer Kleiderschrank. Demnächst bekommen wir eine neue Küche. Zwar achten wir schon, dass die Möbelstücke zu uns passen, aber uns ist wichtig, dass die Möbel funktional sind, uns gefallen, und in unser Budget passen. Mittlerweile fühlen wir uns pudelwohl – auch, oder gerade weil, unser Stil sich unter keinem Hashtag zusammenfassen lässt. 


3 Kommentare zu „Nenn mir dein Label – Wohnst du noch oder lebst du schon?

    1. Ja, Hygge ist ein tolles Thema! Insbesondere wenn man es tatsächlich auf das gesamte Leben überträgt und lebt, und es nicht lediglich ein Vorwand ist, sich bei Ikea mit sehr vielen Kerzen und Plaids einzudecken. Daher habe ich mich in meinem Artikel auf den Wohntrend Hygge beschränkt – nicht auf die Lebensweise!
      LG
      Julia

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